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MaerzMusik 2024

Die Lautsprecher sind die Stars

Onstage: Das Lautsprecherorchester der Groupe Recherches Musicales (GRM). Foto: OHA

Sie stehen auf der weitläufigen Bühne, aber auch rund um und mitten im Publikum, sie warten, wie ein Chor, auf ihren Einsatz. Doch es sind keine Menschen, sondern Maschinen, die auf ihren Einsatz warten. Klangmaschinen, Lautsprecher in verschiedensten Formen und Farben. Da sind die mehr als ein Dutzend roten Kugellautsprecher, aufgehängt auf Stativen und metallenen Bögen. Da sind die bekannten Kombis aus Subwoofer und Mittel- und Hochtöner, wie sie auf jeder Veranstaltung herumstehen. Da sind turmhohe Speaker mit vielen Membranen und Lautsprecher, die aussehen wie die Antriebe von Düsenjets oder die Lampen in einem Operationssaal. Da ist der baumartige Speaker, an dessen Ästen Membrane sprießen statt Blüten. Insgesamt sind es rund 60 Lautsprecher. Alle haben sie nicht nur ein unterschiedliches Aussehen, sondern auch unterschiedliche Klangqualitäten, und genau um die geht es an diesem Eröffnungsabend des Festivals Maerz Musik 2024 im Haus der Berliner Festspiele.

Eingeladen wurde dafür das Lautsprecherorchester Acousmonium, das vom französischen Komponisten François Bayle 1974 in Paris im Rahmen der von Pierre Schaefer gegründeten Groupe Recherches Musicales (GRM) erstmals präsentiert wurde, um die akusmatischen Werke der musique concrète adäquat aufführen zu können.

Zehn Kompositionen von zehn verschiedenen Komponist*Innen aus den unterschiedlichsten Generationen und Kulturen von François Bayle (geboren 1932) und Beatriz Ferreyra (1937) über Jim O'Rourke (1969) bis zu Eve Aboulkheir (1991) zeigen ein großes Spektrum der Akusmatischen Musik, also einer Musik, die in einem Tonstudio produziert wurde, und in der die ursprünglichen Klangquellen (im Gegensatz zum schlichten Sampling in der Popmusik) durch vielfältige Manipulationskonzepte oft nicht mehr erkannt werden.

Auch visuell gibt das Acousmonium etwas her: Die Lautsprecher werden durch farbige Scheinwerfer in jedem Stück neu inszeniert. Die vorproduzierten Klangkompositionen werden live von den teilweise anwesenden Komponist*Innen vom Mischpult aus gesteuert. Der Mensch verschwindet hier also nicht aus der Performance, sondern hält sich einfach dezent im Hintergrund und überlässt die große Bühne den Lautsprechern und vor allem den Klängen selbst. Der Künstlerischen Leiterin der Maerz Musik Kamila Metwaly und ihrem Festivalteam ist damit ein akustisch und visuell beeindruckender Eröffnungsabend gelungen, der einerseits die Geschichte der Elektroakustischen Musik aufzeigt, andererseits auch Neues präsentiert und vom Publikum begeistert aufgenommen wurde.

Der Baum der akusmatischen Erkenntnis? Foto: OHA

Nebel wabert über die große Bühne, deren Hintergrund dunkelrot glüht. Geister schweben durch den Nebel auf die Bühne, sie entpuppen sich nach und nach als die Musikerinnen des Ensembles Les Percussions de Strasbourg die allesamt auf elektrischen Rollbrettern stehen. Die sechs Frauen tragen dunkle Hosen und weiße Hemden mit hochgekrempelten Ärmeln und schwarze Schlipse. Sie erinnern damit an den technokratischen Look der deutschen Elektroband Kraftwerk und gehen emotionslos ihrer musikalischen Arbeit nach. Zwei der Musikerinnen bearbeiten eine Art Marimba-Guillotine: an einem Gestell hängt eine der Musikerinnen auf immer wieder andere Weise die Schlägel auf, während die Kollegin sie mit einem Handgriff herunterfallen lässt auf die Klangplatten, wo sie scharfe und immer auch ein wenig zufällige Klänge erzeugen.

Die anderen Musikerinnen bearbeiten weitere liegende und hängende Klangplatten mit Schlägeln und Bögen, nehmen ihre Schwingungen mit einem Handmikrofon ab. Ein düsteres Labor der Klänge in das plötzlich ein Mann (eine männliche Puppe) aus dem Bühnendach herabsinkt, dessen Bauch rot leuchtet und aus dem die Musikerinnen drei Spieluhren herausholen. Es sind drei der ursprünglich 12 Spieluhren, für die Karlheinz Stockhausen diese Komposition geschrieben hat. Simon Steen-Anderson hat die ebenfalls zwölf Melodien von Stockhausen auf drei reduziert und eine Inszenierung geschaffen, die über ein reines Konzert weit hinausgeht, sondern Musiktheater ist, im besten und wortwörtlichen Sinne. Doch die eigentlich kindliche Inspiration für dieses Werk - Stockhausen erzählte seiner Tochter, ihr Magengrummeln sei „Musik im Bauch“, Jahre später machte er aus dieser Vision das vorliegende Stück – ist von Steen-Anderson zu einer düsteren Vision geworden, die eher an Folterkeller erinnert, als an ein harmloses Kinderzimmer.

Dass dann die fünf Frauen dem schlaff herunterhängenden Mann aus dem blutrot leuchtenden Bauch die Musikinstrumente herausholen, ist ein drastisches Bild, bei dem einzelne Zuschauer den Raum verlassen. Was will der Regisseur uns damit sagen? Kaltherzige Frauen und Instrumentalistinnen entwinden dem bemitleidenswerten Mann und Komponisten die Musik (-Instrumente)? Haben wir es hier mit künstlerisch verklausulierter Misogynie und männlichem Selbstmitleid zu tun? Oder ist der Beobachter hier auf einer falschen Interpretationsfährte? Das Stück ist zwar visuell beeindruckend, lässt aber inhaltlich etwas ratlos zurück. Solch drastische Inszenierungen bei einem so harmlosen Thema hinterlassen angesichts der Schrecken der aktuellen Kriege und Gewaltausbrüche in der Ukraine und in Israel und Palästina einen seltsamen Beigeschmack.

Ganz ohne Inszenierungen kommt der Abend unter der Überschrift „teeth“ aus, zieht allerdings auch bei weitem nicht so viel Publikum, wie die beiden bereits beschriebenen Abende. Bereits vor 10 Jahren haben sich unter dem Namen EnsembleKollektiv vier Berliner Formationen der Freien Szene zusammengefunden, um auch Kompositionen, die größere Klangkörper erfordern umsetzen zu können. Dirigiert von Enno Poppe hat sich das Ensemble einer aktuellen Komposition des iranischen, in den USA lebenden, Komponisten Ashkan Behzadi namens „Convex“ angenommen. Mit eckigen Bewegungen führt Poppe das Ensemble durch die zerklüftete Komposition mit vielen isolierten Einzeltönen, Clustern und Geräuschen. Helmut Lachenmanns „Mouvement(-vor der Erstarrung)“ arbeitet mit geisterhaften Streicherklägen: Wischen, Huschen, Flirren. Die Trompete nutzt Dämpfer, Luft, Plopp und Klopfgeräusche. Immer wieder lassen Cello und Kontrabass ihre Bögen auf die Saiten prallen, bis die Haare in Fetzen hängen. Für die Komposition „teeth“, von Maerz Musik in Auftrag gegeben an die Kalifornierin Michelle Lou, werden ein Modularsynth und eine Minimoog auf die Bühne gestellt. Störgeräusche, Rattern, Brummen und tiefe Bläser (wie Bassquerflöte, Bassklarinette oder Kontraforte), zwei E-Gitarren, zwei Akkordeons erzeugen eine endzeitliche, alptraumhafte Musik.

Mit zwei eindrucksvollen Musik- und Tanzprogrammen verabschiedet sich das diesjährige Maerz Musik Festival. Auf der Seitenbühne des Festspielhauses präsentiert die bereits im letzten Jahr gebuchte Pianistin Agnese Toniutti ein Programm mit Werken u.a. von Lucia Dlugoszewski, einer Studentin von Edgar Varèse. Die amerikanische Komponistin, Perkussionistin und Pianistin hat seit den 1950er Jahren nicht nur zahlreiche neue Schlaginstrumente entwickelt, neue Spieltechniken für konventionelle Instrumente erfunden, sondern sich auch intensiv mit dem Innenleben des Pianos auseinander gesetzt und mit Tänzern und Choreografen insbesondere mit Erick Hawkins zusammengearbeitet. Auf der Seitenbühne erklingt zunächst das „Exacerbated Subtlety Concert“ (von 1997/2000) für Timbre-Piano und Tanz-Solo. Und wie schon der Titel andeutet, ist es eine Musik im Pianissimo, erzeugt mit kleinen Hämmern, Schlägeln, Bürsten, Stäben auf den Saiten und dem Innengestell des Flügels. Dazu tanzt Kristina Berger, Principal Dancer der Erick Hawkins Company, ein Solo mit Elementen aus Ballett, Yoga, Sumo-Ringen und Gymnastik.

Installation Christina Kubisch "Kupfergarten". Foto: OHA

Ebenso beeindruckend das Stück „Cantilever“ von Dlugoszewski und Hawkins aus dem Jahr 1963 für Piano und vier Tänzer*Innen. Arm- und beinfreie hautenge Stretchanzüge in Rotweiß, Grünweiß, Schwarzrot und Weißgrün betonen das Abstrakte, klar Strukturierte. Die Tänzer*Innen bewegen sich mit teils anmutigen, dann wieder sehr eckigen und geometrischen Figuren, Arm- und Beinhaltungen, eine Reminiszenz daran, dass das Stück einem befreundeten Architekten gewidmet war. Am Ende der Performance weint die Choreografin Katherine Duke vor Glück über die Arbeit ihrer Company.

Auf der Großen Bühne schafft es das Ensemble im zweiten Teil des Abends sogar noch diese hohe Qualität zu toppen. In „Space Is A Diamond“ von Lucia Dlugoszewski für Trompete Solo hat Tänzer und Choreograf Edivaldo Ernesto ein brutal schnelles und hochpräzises an Karate- oder Kung Fu-Katas erinnerndes Solo kreiert. Gekleidet in einen Anzug mit rotem Sacco vollführt er Bewegungen, die zwar an Kampfsport erinnern, aber allein durch die Handbewegungen eher zu einem Kampf mit seelischen Zuständen, als äußerlichen Gegnern werden.

„Disparate Stairway Radical Other“ ist eine Komposition für Streichquartett mit Tanz. Lucia Dlugoszewski hat für die Streicher eine Musik komponiert, die viel mit gleitenden Tönen arbeitet und das vielfältige Geräuschpotential der Instrumente auslotet. Die Musiker*Innen des Ensemble Musikfabrik performen mit großer Präzision und Hingabe das nervöse und vorantreibende Werk von 1995, zu der Katherine Duke die Choreographie beigesteuert hat. Vier Tänzer*Innen tanzen dazu in halbdurchsichtiger Gaze in Graublau und Braun.

Im letzten Teil des Abends kommt dann das vielfältige Schlagwerk von Lucia Dlugoszewski zum Einsatz. Wie bereits im letzten Jahr haben die beiden Perkussionisten Dirk Rothbrust und Ramón Gardella ihre zwei Sets aufgebaut, die an Jahrmarktbuden erinnern. Sie sind jeweils umringt von Glocken, Becken, Ratschen, Blechen, Glasröhren, Holzstäben und allerlei Trommeln, die rings um sie herum aufgehängt und aufgestellt sind. Davor sitzt das Blechbläserquintett, das ebenfalls zu Dlugoszewskis Komposition „Tender Theatre Flight Nageire“ gehört. Jeder der Bläser*Innen hat jeweils noch einen ganzen Tisch voller Dämpfer und anderen Utensilien neben sich liegen, mit denen die Klänge permanent moduliert werden. Edivaldo Ernesto hat für die drei Tänzer*Innen (zwei Frauen, ein Mann) eine Choreographie entwickelt, die erneut Kampfsportelemente in den Tanz einfügt.

Maerz Musik 2024 unter der künstlerischen Leitung von Kamila Metwaly hat erneut gezeigt, welches Potenzial sowohl in der Erforschung und Wiederentdeckung historischer Neuer Musik steckt, als auch wie vielseitig zeitgenössische Kompositionen (Klanginstallationen, Konzerte mit und ohne Elektronik, Tanz) sein können. Das Festival ist ein Ort der Inspiration, der Interessierte aus aller Welt anlockt, zusammenbringt und begeistert.

www.berlinerfestspiele.de


Jazzfest Berlin 2023

Ehekrach und Sirenenklang

Das 60. Berliner Jazzfest wurde unter der Überschrift Spinning Time eröffnet, feierte den Free Jazz und kreative europäisch-afrikanische und deutsch-amerikanische Projekte. Die schrecklichen Kriegswirklichkeiten durften vier Tage lang draußen bleiben.

Erstmals auf der Jazzfest-Bühne seit 60 Jahren: zwei Kinderchöre

Dreißig Kinder wuseln quirlig in die erste Reihe des Zuschauerrangs des Berliner Festspielhauses. Sie werden angeführt von ihren Chorleiterinnen, denn es sind erstmals in der 60jährigen Geschichte des Jazzfest Berlin Kinder auf der Bühne nicht nur zu sehen, sondern auch zu hören. Vorangegangen ist ein mehrtägiger Workshop, in dem der Mädchenchor der Sing-Akademie zu Berlin und die Kapellknaben des Staats- und Domchor Berlin Jazz und Improvisation kennengelernt haben. Nun stehen sie in einem großen Projekt namens Apparitions (Erscheinungen) zweier Komponisten, des Pianisten Romain-Clerc Renaud und des Saxophonisten Antonin-Tri Hoang auf der Bühne. Die haben für ihr eigenes Quartet namens Novembre, für ein Cello-Trio und ein weiteres Trio aus Saxophon, Schlagzeug und Gesang und eben dem Kinderchor ein komplexes und inszeniertes Musikwerk erschaffen. Es setzt sich zusammen aus teils nur kurzen, teils sehr wilden Free Bop-Stücken und allerlei Geräuschen (Knackfröschen, Glöckchen, Papierrascheln) zusammen. Die hellen Kinderstimmen folgen dem Saxophonisten wie einst im Märchen vom Rattenfänger aus Hameln. Die beiden Schlagzeuger dirigieren Teile des Chors und lassen ihn zu einem Element des Drum-Sets werden. Ein Teil der Band verschwindet hinter schwarzem halbdurchsichtigem Stoff. Am Ende verschwinden alle im Dunkel.

Ein kraftvolles Duo auf der Bühne, wie im Leben: Aki Takase und Alexander von Schlippenbach

Mit Aki Takase und Alexander von Schlippenbach kommen anschließend zwei Ikonen der frei improvisierten Musik auf die Bühne. Sie sind musikalische Partner und auch ein Ehepaar. Schlippenbachs erster Auftritt beim Jazzfest Berlin war bereits 1966, Aki Takases 1981, wie Festivalleiterin Nadin Deventer vor dem Konzert betont. Es wird erneut ein denkwürdiger Auftritt, denn die beiden spielen auf zwei Flügeln so kraftvoll auf, als kämen sie gerade frisch aus der Hochschule. Dennoch unterscheiden sich Schlippenbachs und Takases Spiel deutlich: er repräsentiert eher ein nachdenkliches, verinnerlichtes Klavierspiel, während sie kraftvoll und expressiv in die Tasten haut und resolute Zeichen gibt. Die Stücke stammen überwiegend vom neuen Album Four Hands Piano Pieces und sind so kurzweilig, wie abwechslungsreich.

Dazwischen ehrt Takase in einem Solo die kürzlich verstorbene Carla Bley und spielt mit Ida Lupino eine ihrer bekanntesten Kompositionen. Gemeinsam an nur einem Klavier geben die beiden auch einen winzigen privaten Einblick in ihre Künstlerehe: das Stück mit allerlei Gerätschaften auf einem Teil der Klaviersaiten habe viel anstrengende Auseinandersetzungen verursacht bis hin zu drohender Scheidung und heiße deshalb folgerichtig Zankapfel, erklärt Schlippenbach. Takase scheppert in der tiefen Lage, während Schlippenbach die oberen und cleanen Saiten spielt. Ihre Hände überkreuzen sich und scheinen sich dennoch auf wundersame Weise nie zu behindern. Ihre Phrasen ergänzen sich und manchmal scheint jeder zu spielen was er gerade will, scheinbar ohne den anderen zu beachten. Mit Takases Bearbeitung von Bachs C-Moll-Präludium und einem Bavarian Calypso verabschieden sich die beiden getragen von stehenden Ovationen von der Jazzfest-Bühne und zeigen damit sowohl ihre Verbundenheit mit der klassischen Musiktradition, als auch ihren Humor.

Mit Kontrabass und ausdrucksstarken Stimmen: Fuensanta

Den ersten Festival-Abend beendet auf der Seitenbühne eine ungewöhnliche Besetzung aus Amsterdam. Unter der Leitung von Sängerin und Kontrabassistin Fuensanta aus Mexiko versammelt sich ihr multinationales Ensamble Grande aus weiteren vier Frauenstimmen, Trompete und Saxophon und zwei Schlagzeuger*Innen. Sirenenhafte Chöre, Fuensantas kraftvolles Bassspiel gepaart mit ihrem ausdrucksstarken Gesang auf Spanisch und Englisch werden unterlegt von den treibenden Beats der Perkussion. Dieses außergewöhnliche Talent verzaubert mit seiner Mischung aus Jazz und seelenaufrüttelnder Folklore nicht nur ihr eigenes Ensemble, sondern auch das Publikum.

Zweiter Abend

Oral History über ägyptische Sänger*Innen: Nancy Mounir

Ein Oral History Musik Projekt aus einer nicht gerade für Jazz bekannten Gegend der Welt, nämlich aus Kairo eröffnet den zweiten Festivalabend. Die Violinistin und Thereminspielerin Nancy Mounir hat die Geschichte ägyptischer Sänger und Sängerinnen aus den 1920er Jahren erforscht. Historische Plattenaufnahmen erklingen und dazu spielen acht Musiker*Innen die Orchesterarrangements, geleitet und gelegentlich auch ergänzt von Mounir und ihrem Theremin. Das elektronische Instrument, erfunden in derselben Zeit, passt perfekt zu dem von Ton zu Ton gleitenden Gesang der Ägypter, die auf den eingeblendeten Schwarzweiß-Fotos teils unglaublich modern aussehen und genauso durch das 20er-Jahre-Berlin gelaufen sein könnten. Die Sänger erzählen von ihren Erfolgen und heute als queer zu bezeichnenden Methoden, wie z.B. dass ein Mann Lieder aus Frauenpersepktive sang. Sie berichten von der Freiheit die die Sänger in der Moschee hatten, da sie als Solisten keinen Beschränkungen durch andere Instrumente oder Arrangements haben. Und von einer damals berühmten Sängerin, die sich nach dem Tod ihres Sohns in dessen Grabhaus zurückzog und aus der Öffentlichkeit für immer verschwand.

Geräusche, Klang und freie Improvisation kann auch entspannend sein: Fred Frith, Maria Portugal und Santos Silva

Der britische Gitarrist Fred Frith hat sich mit Trompeterin Susana Santos Silva und der Schlagzeugerin Mariá Portugal zusammengetan und demonstriert einmal mehr wieviele Klangmöglichkeiten in einer Gitarre stecken. Sie lässt auf den Schoß legen und ihren Saiten mit Bögen oder federnden Stäben bearbeiten. Man kann Schalen auf ihren Saiten ablegen, sie zupfen, aber auch trommeln, kratzen, schaben. All dies tut Frith seit Jahrzehnten mit Hingabe und Musikalität. Seine Partnerinnen sind auf ihren Instrumenten nicht weniger kreativ: Portugal benutzt zahlreiche Klangschalen und Glöckchen, lässt eine Bund bunter Plastikteile auf ihre Snare-Drum rieseln, Kuhglocken klingen zum Muhen von Kühen und dem Zwitschern von Vögeln. Silvas Trompete blubbert und rauscht und der zweite Ventilbogen wird entfernt und auf den nun offenen Löchern quasi Flöte gespielt. Das Ganze klingt dabei erstaunlich wenig wild, wütend oder chaotisch als vielmehr sehr liebevoll und erstaunlich ambient und entspannend.

Expressive Free Rock Soli: Oddrum Lilja Jonsdottir

„Jeder in dieser Band kann jedes Stück zu jeder Zeit spielen“, verspricht Bandleader und Drummer Paal Nilssen-Love. Sein Projekt mit skandinavischen Musiker*Innen namens Circus ist ein Septett, dass sich dem weitgehend freien Spiel verschrieben hat, allerdings weniger auf einer entspannenden, als vielmehr auf eine aufputschende Art und Weise. Wilde Free-Rocksoli von Gitarristin Oddrun Lilja Jonsdottir, die allerdings mangels guter Lichtregie im Dunkel außerhalb des beleuchteten Teils der Bühne stattfinden, gehören ebenso dazu wie spontane Tanzausbrüche (ebenso im Dunkel) von Vokalartistin Juliana Venter. Akkordeonist Kalle Moberg fegt über seine zahllosen schwarzen und weißen Knöpfe und Bassist Christian Meaas Svensson traktiert seinen E-Bass mit der flachen Hand. Das Publikum bettelt anschließend nach mehr.

Am späteren Abend wird die Bühne wie schon in den Vorjahren zum Klub, das Publikum verlässt unter dem Titel Sonic Dreams: Chicago die Komfortzone der Theatersessel und nimmt Tuchfühlung auf mit den Musiker*Innen eben überwiegend aus Chicago. Fast wie in einer amerikanischen Innenstadt stehen da Musiker und Publikum auf Augenhöhe, die einen umringt von den anderen und feuern ungefiltert ihre musikalischen Botschaften ins Volk.

Wütender Poet aus Chicago: Marvin Tate

Da ist die wütende Poetry von Marvin Tate der als Teil von The Separatist Party kraftvoll und lauthals sein Botschaften dem Publikum entgegen brüllt. Er trifft den Ton eines wütenden Straßenpredigers auf laut folgt bei ihm nur noch lauter, man muss auch gar nicht exakt verstehen, was genau er sagt, jeder im Raum fühlt hier geht um Existentielles. Getragen wird Tate von den stur voranschreitenden Grooves der fünfköpfigen Band. Verhalllte Flötenlinien von Rob Frye und gedämpfte Kornettphrasen von Ben LaMar Gay lassen dem Publikum Zeit, die wütenden Tiraden zu verdauen, bevor Tate erneut das Wort ergreift.

Improvisierte Elektronische Musik: Bitchin Bajas

Kaum geendet beginnt sich ein neuer Kreis um drei Musiker zu bilden und ein Trio aus Bass, Drums und Tenorsaxophon improvisiert konzentriert. Mit den Bitchin Bajas ist auch elektronische Musik aus Chicago ist zu hören. Zwei Synthesizerspieler (Dan Quinlivan und Cooper Crain) und Saxophonist und Flötist Rob Frye improvisieren einen pulsierenden Soundtrack auf fast schon historischen elektronischen Instrumenten unterstützt von einem Computer. Selbst das anfängliche Streiken einer schon reichlich runtergerockten Transistororgel wird durch gezielte Schläge und anschließend dem Wechsel eines Amps durch den Künstler noch während des Konzerts gelöst. Elektronische Nerds sind ebenso begeistert wie Jazzfans.

Spiritueller Jazz im Groove der Gimbri-Laute: Natural Information Society

Abschließend strömt das Publikum zur großen Bühne auf der die Natural Inforamtion Society Platz genommen hat. Dieses achtköpfige Ensemble unterstützt durch einige Musiker*Innen aus Berlin wie Trompeter Axel Dörner unterwirft sich dem Groove der nordafrikanischen Basslaute namens Gimbri, gespielt von Joshua Abrams. Das urwüchsige Instrument mit nur wenigen Saiten klingt einem herkömmlichen Kontrabass erstaunlich ähnlich. Stoisch groovt nicht nur die Laute in der Hand des Mannes mit den beiden grauen Zöpfen, sondern ebenso stoisch erklingen ein Gewebe aus Bläserlinien und Harmoniumklängen darüber. Wir hören hier eine zeitgenössische Version der spirituell angefachten Fire Music von Pharoah Sanders und John und Alice Coltrane. Ari Brown ist hier Special Guest und der einzige Solist in diesem Ensemble. Mit großer Intensität, aber mit einfachsten Melodielinien soliert er am Tenorsaxophon durch die gesamte Performance. Die Einfachheit bei gleichzeitiger Komplexität ist hypnotisch und beendet den zweiten Festivalabend fulminant.

Dritter Abend

Der dritte Festivalabend wird eingeleitet von der Pianistin Marlies Debacker. Die Belgierin ist mit dem Inneren des Pianos mindestens genauso beschäftigt, wie mit der Arbeit an den Tasten. Das Sich-hinein-beugen in den großen schwarzen Flügel scheint geradezu ein Bild zu sein, für die Innerlichkeit, mit der Debacker diesen Abend gestaltet. Zart gezupfte Akkorde und wie eine Wolke aufsteigende Cluster kreieren einen meditativen Soundtrack ohne anbiedernde Wohlfühlharmonik. In einer ähnlichen Stimmung ist auch das folgende Konzert von Ellen Arkbro. Fahle Melodielinien unter der Überschrift „I get along without you very well“ entströmen der schwedischen Sängerin und Trompeterin und ihrem Sextett mit dem Pianisten und Klarinettisten Johan Graden, und erzeugen eine Stimmung wie eine kalte und einsame nordische Vollmondnacht. Etliche im Publikum entfliehen vorzeitig dieser kollektiven musikalischen Paartherapie.

Nordische Melancholie mit Gesang und Trompete: Ellen Arkbro

Das folgende Projekt hatte einen mehrjährigen Vorlauf und wird realisiert unter dem Einsatz von größeren Finanzmitteln (Hauptstadtkulturfonds). Es ist ein Kompositionsauftrag vom Jazzfest Berlin, und erforderte monatelanges Üben der Einzelstimmen durch die Musiker*Innen und dann auch noch einwöchige ganztägige Proben zweier miteinander kombinierter Bands aus Amerika und Berlin. Das ist insofern bemerkenswert, als viele Jazzmusiker sich rühmen, fast ohne Proben (Festival-)Konzerte zu geben. Häufig sehen sich auch von Kuratoren zusammengestellte Besetzungen oft erst beim Soundcheck vor dem Gig und sprechen dort nur das Allernötigste ab. Großer Aufwand erzeugt also auch große Erwartungen in das gemeinsame Projekt des amerikanischen Quintetts Zooid von Saxophonist und Flötist Henry Threadgill mit dem zehnköpfigen Berliner Ensemble Potsa Lotsa XL von Saxophonistin Silke Eberhard. Es wird zudem auch deutschlandweit live im ARD-Hörfunk übertragen.

Mitbegründer der legendären AACM: Henry Threadgill

Der bald 80jährige Afro-Amerikaner und Mitbegründer des Chicagoer AACM-Kollektivs hat in dem ihm eigenen Intervall-orientiertem Tonsystem eine einstündige Komposition geschrieben. Sie zu lernen, war offensichtlich eine große Herausforderung für alle Beteiligten,wie die Festivalleitung nicht müde wurde zu betonen und wie auch im vorangegangen Artists' Talk zu erfahren war, zu dem allerdings Threadgill, anders als im Programmheft angekündigt, nicht persönlich erschienen ist. Einen Abend zuvor plauderte er noch gut gelaunt mit dem amerikanischen Journalisten Peter Margasak über seine Anfänge als Saxophonist, erste Misserfolge, die überwunden werden mussten, und seine Zeit in der Armee, zunächst als Musiker, später als Soldat in Vietnam und die Enstehung des AACM-Kollektivs. Zu seinem neuen Werk und zur Zusammenarbeit mit den Berliner Musiker*Innen mochte er aber auf Nachfrage nichts Substantielles sagen.

Viel Tamtam im Vorfeld also, doch so pompös sich das alles anhört, so reduziert, zart und transparent klingt dann überraschenderweise das Ergebnis in der Konzertwirklichkeit. Es gibt sehr lange Solo- und Duoparts, sie sind, ungewöhnlich für Jazz, überwiegend detailliert auskomponiert, wie man auf Nachfrage hinterher erfährt. Sie werden nur selten unterbrochen von Passagen, in denen alle gemeinsam spielen. So will Threadgills Werk namens Simply Existing Surface weniger durch eine 15köpfige transatlantische Wall of Sound beeindrucken, als vielmehr durch rhythmische und melodische Komplexität, Klangvielfalt und Klangkombinationen, mit flirrenden Klarinetten, einem äußerst eleganten und gleichzeitig expressiv sich steigerndem Tenorsaxophonsolo von Patrick Braun oder einem orkanhaftem Drum-Solo von Kay Lübke. Das Threadgillsche Tonsystem hinter der Komposition lässt sich allerdings nicht deutlich heraushören und ist vielleicht eher als eine persönliche Methode anzusehen, konventionelle Dur-Moll-Jazzharmonik in Komposition und Improvisation zu vermeiden.

Zwei Bands, ein Werk: Henry Threadgill mit Zooid und Potsa Lotsa XL

Diese kompositorische Reduktion bei rhythmisch-melodischer Komplexität, und wohl auch das Lebenswerk von Henry Threadgill insgesamt, wird am Ende des Konzerts mit stehenden Ovationen bedacht. Der nimmt allerdings beim Schlussapplaus statt seiner Ko-Bandleaderin die Vibraphonistin Taiko Saito in den Arm, die zuvor ein rhythmisch präzises und mitreißendes Solo gespielt hat. Mag da jemand Erfolg nicht gerne teilen oder gab es doch künstlerische Unstimmigkeiten zwischen dem amerikanischen Star und den Berlinern? Und warum komponiert ein Jazzmusiker für andere improvisierende Solisten deren Soli aus? Kompositorischer Ehrgeiz oder doch eher fehlendes Vertrauen des Amerikaners in das Können der Deutschen? Der große Schlussapplaus fegt die sich stellenden Fragen leider nicht ganz hinweg.

Mit Poesie kämpfen: Camae Ayewa alias Moor Mother

Auf der Seitenbühne findet sich an diesem Abend im Spätprogramm die Band Irreversible Entanglements (Unumkehrbare Verstrickungen) mit der Poetin und Komponistin Camae Ayewa alias Moor Mother. Ayewa ist eine ausdrucksstarke Performerin, deren Poesie sich kämpferisch gegen Rassismus, für die Bürgerrechte der Afroamerikaner und für die Freiheit einsetzt. In diesem Jahr erhielt sie den Deutschen Jazzpreis als „Künstlerin des Jahres international“. Sie ist auf dem Jazzfest keine Unbekannte, hat 2018 bereits hier gespielt. Während sie in anderen Projekten HipHop oder elektronische Musik verwendet, hören wir sie hier mit einem rein akustischen, eher an Free Jazz orientiertem Ensemble mit Saxophon, Trompete, Bass und Drums. In dem sie geradezu berstend vor Wut ihre Texte ins Mikrophon schreit, Perkussion spielt und ihre Dreadlocks wirft. Keine Frage, hier geht es um Existentielles, um das Überleben als afroamerikanische Frau in einem immer noch rassistischen Amerika und einer nach wie vor von Rassismus und Sexismus geprägten Welt.

Vierter Abend

Der Tag beginnt mit der Filmpremiere Tastenarbeiter – Alexander von Schlippenbach von Tilman Urbach im Delphi-Kino, einem ehemaligen Ballsaal, der auch schon Spielstätte für das Jazzfest Berlin war. Filmemacher Urbach begleitet den Pianisten und Komponisten zu Proben und Konzerten, beobachtet ihn aber auch in seinem Alltag beim Notenschreiben, beim Kochen oder auf dem Balkon sitzen. Zu Wort kommen langjährige Weggefährten wie Manfred Schoof, Günther „Baby“ Sommer, FMP-Gründer Jost Gebers oder Schlippenbachs Frau Aki Takase und sein Sohn Vincent alias DJ Illvibe. Der Film hegt allerdings keinen Anspruch auf Vollständigkeit, er zeichnet ein eher grobes Bild der Entstehung des europäischen oder vielmehr deutschen Free Jazz, und zieht Parallelen zur politischen Entwicklung in den 60er Jahren. Das ist teilweise humorvoll, aber auch voller Auslassungen: die Frauen des Free Jazz (wie z.B. Iréne Schweitzer) kommen in diesem Film nicht vor, Aki Takase nur als Ehepartnerin, aber nicht wirklich als eigenständige Künstlerin. Womöglich sind noch viele weitere Filme nötig, die die verschiedenen hier nicht gezeigten Aspekte der frei improvisierten Musik in Deutschland thematisieren. Trotzdem ist es ein unterhaltsamer und humorvoller Film über einen eigensinnigen Künstler, und über eine Szene, die oft als sehr humorlos verschrien ist.

Träger des diesjahrigen Albert-Mangelsdorff-Preis: Conny Bauer

Am Nachmittag feierte die Deutsche Jazzunion im Kassenfoyer ihr 50jähriges Bestehen und wies auf die Notwendigkeit einer starken Interessenvertretung für die Belange der Jazzmusiker*Innen in Deutschland hin, deren Einkommen in der Mehrheit weit unter dem Bevölkerungsdurchschnitt liegen. Innerhalb der letzten 10 Jahre habe sich die Mitgliederzahl von damals nur noch 120 auf heute 1700 mehr als verzehnfacht, so Geschäftsführer Urs Johnen. Kulturstaatsministerin Claudia Roth schickte per Video ein Grußwort und würdigte die Vertretung der deutschen „Tschäss“-Szene. Mit einer bewegenden Laudatio ehrte Musikjournalist Bert Noglik den Posaunisten Conny Bauer, den diesjährigen Träger des Albert-Mangelsdorff-Preis. Er habe sich durch sein meisterliches und innovationsfreudiges Posaunenspiel, seine solistische und seine Arbeit in diversen Ensembles noch in der DDR und auch nach der Wende bis heute qualifiziert. Später am Abend konnte Bauer im deutsch-amerikanischen Trio mit Schlagzeuger Hamid Drake und Bassist William Parker sein Können einmal mehr einem begeisterten Publikum zur Schau stellen. In einer fast einstündigen Gruppenimprovisation zeigten die drei, wie rhythmisch präzises und gleichzeitig freies Spiel klingen kann.

Spielen scheinbar unbewegt hochbewegliche Linien: Bill McHenry und Andrew Cyrille

Zuvor war mit Drummer Andrew Cyrille und Tenorsaxophonist Bill McHenry ein virtuoses amerikanisches Free Bop-Duo zu hören, das u.a. Stücke von Muhal Richard Abrams und Don Moyé spielte.

Eurozentrischer Titel für ein europäisch-afrikanisches Projekt: Eurythmia von Eve Risser's Red Desert Orchestra

Mit Eve Risser's Red Desert Orchestra kommt eine hochenergetische Fusion aus europäischem Jazz und westafrikanischer Improvisationstradition unter dem Titel Eurythmia, das besser Afro-Eurythmia heißen sollte, auf die Bühne. Denn afrikanische Klänge und Rhythmik und europäische Improvisations- und Klangkultur halten sich hier mindestens die Waage. Die französische Pianistin Eve Risser war bereits zu Gast beim Berliner Jazzfest und ist ein Energiebündel, die es kaum auf ihrer Klavierbank aushält, lieber im Stehen spielt, in das Innere des Pianos greift und dort Metallteile auf den Saiten arrangiert, ihre Band mit Gesten anfeuert oder einfach, begeistert von ihrer Band deren Musik, herumtanzt. Passend dazu trägt sie unter einer viel zu großen Jacke und weiten bequemen Hosen weiße Turnschuhe, mit denen sie auch gleich einen 100m-Sprint oder einen Weitsprung machen könnte. Ihr Orchester vereint zwei weitere Frauen an Balafon und Djembe (Belli und Mélissa Hié), und eine Bläsersection, in der der gut zwei Meter große Belgier Grégoire Tirtiaux sein Baritonsaxophon, schlank und beweglich klingen lässt, wie ein Tenor. Das spielt widerum Sakina Abdou und sie begeistert mit einigen intensiven Soli. Sichtlich berührt erinnert Risser an die kürzlich verstorbene Pianistin und Komponistin Carla Bley und widmet ihr ein Stück.

45 Jahre verschollen, nun auf der Bühne: das Album Natureza von Joyce Moreno

Den Festival-Abschluss auf der großen Bühne mit der legendären brasilianischen Jazz-Samba-Sängerin und Songschreiberin von über 300 Titeln Joyce Moreno wollen dann nur noch erstaunlich wenige Zuschauer miterleben. Joyce, die ihr gleichnamiges Debüt 1968 herausbrachte, hat nun ein lange verloren geglaubtes Album, namens Natureza, veröffentlicht, das sie vor 45 Jahren mit dem legendären Arrangeur Claus Ogerman aufgenommen hat. Die Originalbänder sind verloren gegangen, es gab nur eine schlichte und nicht fertig gemasterte Kassette von dem großen Projekt mit Gastsängern, Streichern und Flöten. So blieb das Album lange unveröffentlicht, manche behaupteten sogar, es habe nie existiert, doch mittels heutiger Technik ist es möglich geworden, die Aufnahmen zu vollenden. Die Songs waren ohnehin in der Welt und wurden von Joyce und vielen anderen Kolleginnen längst gespielt. Auf der Bühne sitzt die äußerst agile und geradezu jugendlich wirkende 75jährige mit ihrer elektroakustischen Reisegitarre, die sie gewohnt souverän und rhythmisch präzise zupft. Ihr uptempo Jazz-Samba hält sich nicht mit allzu viel Innerlichkeit auf, sondern ist geradeheraus und mitreißend.

Das Abschlusskonzert ist zugleich das erste, auf dem nicht die freie Improvisation dominiert, sondern tatsächlich Harmonien und Melodien in Dur und Moll erklingen. Es ist damit geradezu unerwartet konventionell für das überwiegend vom Free Jazz und der freien Improvisation dominierte Programm von Festivalleiterin Nadin Deventer. Die einstige Antagonie von Jazzfest Berlin (europäischer und US-Mainstream) und Total Music Meeting (freie Improvisation) ist in den inzwischen fünf Jahren unter Nadin Deventer zugunsten einer Dominanz der frei improvisierten Musik gänzlich verschwunden. Konventioneller oder Mainstream-Jazz findet sich im Programm kaum noch wieder. Anders als in früheren Jahren begegnet man heute kaum noch einem (amerikanischen) Jazzstandard bei den Konzerten des Jazzfests. Gefeiert wird die Fire Music, der Free Jazz und seine zeitgenössischen, oft elektronischen oder kammermusikalischen Weiterentwicklungen, bis hin zu Noise, Spoken Word Poetry und Anklänge aus dem HipHop. Ist das eine schlechte Entwicklung? Sicherlich nicht, denn das Jazzfest Berlin macht sich damit zu einem der wichtigsten Festivals für das Neue in Jazz und improvisierter Musik und feiert sowohl diejenigen, die heute Neues kreieren, als auch die, die in der Vergangenheit Neues kreiert und dafür oftmals auch einen Preis gezahlt haben und auch heute noch zu zahlen bereit oder vielmehr genötigt sind (siehe Absatz über 50 Jahre Deutsche Jazzunion).

Mit den Schlussakkorden des Festivals kommt nun die Realität wieder über uns alle und man muss sich im Nachhinein doch fragen, wie es möglich ist, dass vier Abende lang kein einziges Mal der anhaltende Krieg gegen die Ukraine, kein einziges Mal Krieg und Terror in Israel und Palästina erwähnt wurden. Einerseits waren womöglich alle froh, den schrecklichen Nachrichten aus beiden Konflikten zu entfliehen, andererseits erscheint es aber auch sehr unpolitisch, sie in keinster Weise thematisiert zu haben. Und das bei einem Festival, das in den 60er Jahren durchaus damalige politische Konflikte wie den Vietnam-Krieg zu thematisieren wusste. Ein klares Statement der multinationalen, multireligiösen und multikulturellen Jazzwelt gegen Nationalismus, Extremismus, Krieg und Terror auf einem so renommierten Festival wie dem Jazzfest Berlin wäre nicht nur sehr schön, sondern auch sehr notwendig, gewesen.

Text und Fotos: Oliver Hafke Ahmad

www.berliner-festspiele.de


Playground Festival 2023 in der Deutschen Oper

Techno hinter eisernen Vorhängen


Brandt Brauer Frick vor einem der vier eisernen Vorhänge auf der Bühne der Deutschen Oper Berlin. Foto: OHA

Das Elektro-Duo Ameli Paul und die Klassik-Techno-Band Brandt Brauer Frick machen aus dem Bühnenraum in der Deutschen Oper einen Techno-Klub.

Die Theaterferien neigen sich dem Ende zu, da öffnet eines der kulturellen Flaggschiffe im Berliner Westen, die Deutsche Oper, mit dem Playground Festival ihre Türen für eine Szene, die dort im normalen Programm nicht zu finden ist, nämlich für elektronische Beats. Bereits im letzten Jahr gab es die erste Ausgabe des Playground-Festivals mit damals noch einem halben Dutzend Acts. Diesmal sind es nur Drei, einer davon war bereits im letzten Jahr dabei, nämlich das Duo Ameli Paul. Und dieses Mal findet das Ganze nicht in der Werkstatt, sondern direkt auf der Bühne der Deutschen Oper statt, denn die ist groß genug, um einen Klubraum zu erschaffen, wie wir ihn sonst aus dem Berghain oder E-Werk oder anderen umfunktionierten Industriebauten kennen. Ein rechteckiger Raum, umgeben von riesigen eisernen Vorhängen, die normalerweise im Brandfall die Mitte der Opernbühne in alle Richtungen (zum Zuschauerraum, zur Hinterbühne und den Seitenbühnen) verschließen. Über dem Publikum hängen die nun leeren Traversen und Halterungen für die Bühnenhintergründe, es geht weit hoch in die nachtschwarze Oberbühne. Den hier künstlich und für einen Abend erschaffenen Klub betritt das Publikum über den Künstlereingang. Auf dem Parkplatz, wo sonst GMD (Generalmusikdirektor), Theaterarzt und Geschäftsführung ihre Stammparkplätze haben, wartet nun das Publikum auf Einlass und glüht mit ein paar Drinks vor.

Es ist eine Mischung aus Operngängern (eher älter) und Fans elektronischer Musik (eher etwas jünger). Ziemlich häufig scheinen hier beide Welten innerhalb von Familien aufeinander zu treffen, viele sind tatsächlich mit ihren Eltern da, Jung und Alt gemeinsam im Klub, da würden wohl die meisten Türsteher in Berlins Kluballtag ihre breiten Schultern davorschieben und den Einlass verweigern. T-Shirt und Hoodie-Träger treffen auf Anzug- oder zumindest Hemdträger, und Trägerinnen von teilweise imposant glitzernden Abendkleidern. Undercut, Asymmetrisches und kunstvoll Verwuscheltes treffen auf ordentliche Faconschnitte und gerade Scheitel. Im Dunkel und in der Enge der zum Klub umfunktionierten Bühne nivellieren sich später die Unterschiede, alle werden zu einer wippenden und tanzenden Masse.


Sparsam mit Stimme und konzentriert auf die Elektronik: Das Duo Ameli Paul. Foto: OHA

So wenig wie die Lichttechniker dem Publikum ein Saallicht gönnen, so wenig ist vom Treiben auf der Bühne zu sehen. Denn die Zeiten, in denen die Künstler auf der Bühne von einem Spotlight hell ausgeleuchtet werden, sind in den meisten Klubs lange vorbei, so auch hier. Die Musiker bleiben meist im Dunkeln, nur hin und wieder blitzt eine weiße Lampe direkt von oben auf, monochromes LED-Licht dominiert. Der Effekt: vieles bleibt geheimnisvoll im Dunklen, nur hier und da leuchtet etwas auf. Abstrakte Formen, Linien und Punkte werden auf den Hintergrund projiziert. Das regt die Fantasie der Zuschauer an, denn eigentlich gibt es hier im Vergleich zu den ausgefeilten Bühnenshows vieler Popstars ja auch nicht allzuviel zu sehen. Genau wie im Klub soll es ja auch keinen Starrummel geben, mit denen da oben im Scheinwerferlicht und uns dem Publikum hier unten im Dunkeln. Im Klub sollen alle gleich sein, vereint im mitreißenden und unerbittlichen Beat, so zumindest in der Theorie.

In der Praxis dieses Abends stehen eine Frau und ein Mann an einem großen Tisch und drehen an Kästchen herum. Hin und wieder nehmen sie die Hände mit großer Geste weg von den Knöpfen und Tasten, zumeist wenn ein deutlicher Wechsel im Rhythmus zu hören ist, und hüpfen für ein paar Sekunden frontal zum Publikum. Damit ist im Wesentlichen die Bühnenshow von Ameli Paul beschrieben, das Kölner Duo, das den Anfang macht bei diesem „Festival“, das ja aus nur zwei Bands und einer anschließenden Plattenauflegerin (DJ Océane) besteht. Der Bühnenminimalismus von Ameli Paul macht aber trotzdem Spaß, denn Franziska Ameli Schuster, kann wirklich gut singen, ihre Locken wild hin- und herschmeißen und auch mal große Sängerinnenposen einnehmen, mit ausgestreckten Armen und durchgedrücktem Rücken. Ihre klassische Ausbildung blitzt hier durch. Von chansonhaften Phrasen über souligem Gesang, bis hin zu Operngesang (nachzuhören in der Single „Encore“) hat sie alles drauf, bietet es aber gerade so sparsam an, dass man ihrer Stimme nie überdrüssig wird, im Gegenteil immer gerne mehr davon hören würde. Es dominiert in dieser Performance ein massiver, dunkler und dichter Technosound, der einerseits zum Tanzen anregt und andererseits das halbe Dutzend Subwoofer vor der Bühne ordentlich beschäftigt.


Große Posen zu großer und vielseitger Stimme: Franziska Ameli Schuster. Foto: OHA

Ebenso technoid wie die von Ameli Paul ist die Performance von Brandt Brauer Frick. Das Trio ist bekannt für seinen Techno auf Basis zumeist klassischer akustischer Instrumente. Damit bespielen sie seit Jahren sowohl Elektroklubs, als auch Konzertsäle in aller Welt. Hier auf der Bühne stehen aber nur ein paar wenige akustische Schlagzeugteile (eine Tomtom, eine Hihat), ansonsten eher elektronisches Werkzeug: zwei elektronische Drumpads, zwei Keyboards, ein Laptop und ein großes Mischpult. Jan Brauer ganz links spielt einen roten Clavia Nord-Wave-Synthesizer, moduliert den Bass-Sound an einem monophonen Synthesizermodul und manipuliert andere Details aus dem Gesamtsound live an dem großen Mischpult neben ihm. Mit weißem Hemd und schwarzem Schlips und einer ordentlichen Seitenscheitelfrisur zitiert er den Look der Band Kraftwerk. Paul Frick ihm gegenüber, lange Haare, weiter Anzug, ist für die oft repetitiven Klavier- und E-Pianolinien zuständig, bedient das Laptop mit der Ableton-Software und den vorproduzierten Loops darauf.


Mit Klassik-Samples in die Klubs: Brandt Brauer Frick. Foto: OHA

In der Mitte steht Schlagzeuger Daniel Brandt. Während der Grundpuls und die rhythmischen Sequenzen aus dem Computer kommen, ist er zuständig dafür, menschliche Variation in die vorbereiteten Tracks zu bringen und das vor allem auf der Hihat, denn keine programmierte Hihat klingt jemals so lebendig und abwechslungsreich, wie eine von Hand gespielte. So können wir hier einen teils handgespielten Technosoundtrack hören, der eben nicht nur von Maschinen oder Software wiedergegeben wird, sondern hören einerseits Samples und Loops und hören und schauen trotzdem Musikern beim Spielen zu.

Das hat den Vorteil, dass, wenn die Maschinen mal nicht ganz so wollen, wie sie sollen, nicht alles zusammenbricht. Die Drei kämpfen zu Beginn ihrer Performance mit einem falsch gestöpselten oder defekten Kabel, schaffen es aber, den für das Publikum unhörbaren Fehler noch während der Performance durch beherztes Umstecken zu beheben. „Wir haben ein Problem, es klingt nicht so, wie es soll“, entschuldigt sich Jan Brauer. „Klingt trotzdem geil“ ruft jemand aus dem Publikum. Danach läuft es reibungslos, und Brandt Brauer Frick legen ein mitreißendes Set vor allem mit Tracks vom aktuellen Album Multi Faith Prayer Room hin, dessen Sounds ihre Herkunft aus der klassischen Musik oder dem klassischen Instrumentarium möglicherweise durch den extrem basslastigen Mix kaum erkennen lassen, im Gegensatz zu ihren Alben, wo Streicher oder Bläser deutlich hörbar sind. Doch solche Details stören hier niemanden, der begeisterte Applaus am Schluss ihres Sets ist ihnen sicher. Nun darf DJ Océane den Abend ausklingen lassen.

Der Techno-Klub auf der Opernbühne funktioniert dank dieser beiden mitreißenden Live-Acts und dank der geradezu authentischen Atmosphäre zwischen den eisernen Vorhängen. Schade nur, dass er wohl erst in den nächsten Theaterferien wieder öffnen wird.

https://deutscheoperberlin.de

https://brandtbrauerfrick.de/


Elektronische Musik

Hypnotische Modulationen unter Palmen

The Circle of Live – eine siebenstündige elektronische Improvisation im Rahmen des Kultursommerfestival 2023 im Botanischer Garten Berlin

20. August 2023. Wo sonst Spaziergänger und Pflanzenliebhaber unterwegs sind, wummern an diesem sonnigen Sommersonntagnachmittag sanft Bässe über die Wiese vor den großen Gewächshäusern. Rosaweiße Schirme, Handtücher und Liegestühle sind über die Fläche vor einer Bühne verteilt. Links und rechts von ihr zwei ausladende Dattelpalmen. Ein junges Publikum, das sonst wohl eher die Wochenenden in Klubs als in der Natur verbringt hat sich nach Berlin-Steglitz begeben, um einer siebenstündigen elektronischen Live-Improvisation beizuwohnen. Es vermischt sich mit jungen Paaren, die nun ihre Babies und Kinderwagen mitgebracht haben und Senioren, die womöglich noch Krautrockbands in den 70er Jahren live erlebt haben.

The Circle of Live heißt das Improvisationsprojekt des schwedischen Komponisten und Musikproduzenten Sebastian Mullaert, das hier unter freiem Himmel auf die Bühne kommt, und es ist natürlich eine Anspielung auf das Live-Spielen im Kreise mehrerer Musiker*Innen und den Kreis des Lebens. Mit ihm stehen um einen großen Tisch voller elektronischer Instrumente Produzentin und DJ Erika und Berghain-Resident-DJ Barker. Daneben steht am Mikrofon der Sänger Wayne Snow. Er ist für den souligen Part, für den menschlichen Atem in dem Maschinenpark zuständig. Auch er improvisiert, und zwar Texte, die ihm scheinbar spontan einfallen, die er gleich in eine kleine Kladde notiert und danach wie ein Mantra ins Mikrofon singt, haucht spricht, später am Abend sogar klassisch anmutend mit viel Vibrato jubiliert. „Music is my healing. I use it as a medication“ heißt es eine zeitlang, bis die Phrase im Delayeffekt verschwindet. Er nimmt gut gelaunt Kontakt zum Publikum auf, während die anderen drei hochkonzentriert und ernst über ihre Kästchen gebeugt sind, an Knöpfen drehen und Tasten drücken.

Es entsteht dabei ein gemächlich groovender Soundtrack zu dem fröhlich entspannte Gespräche geführt werden oder auch träumend in den Sommerhimmel geblinzelt wird. Manche schließen die Augen, Andere schauen fasziniert dem Treiben auf der Bühne zu. Vor Muellaert türmen sich ein Laptop, zwei Drum-Maschinen, Synthesizer und Effektgeräte, Barker hat eine große Tastatur vor sich, die er aber nur gelegentlich mit zwei Fingern bedient, wohl als Auslöser für Sampler oder Synthesizer und einen vielspurigen Mixer. Erika steht weitgehend reglos vor einem imposanten Sequenzer mit LED-Lichtern angeordnet wie eine Schnecke, sie ist möglicherweise zuständig für einiges an rhythmischem Zirpen, das man hören kann. Außer bei dem Sänger, fällt es schwer festzustellen, welchen Effekt das Tun der Drei auf das klangliche Ergebnis hat, nahtlos fügen sich die Klänge ineinander und verschwinden wieder.

Trotz der vielen Geräte und wahrscheinlich vielfältigen Möglichkeiten das Klanggebäude zum Wackeln, wenn nicht gar zum Einsturz zu bringen, fügen sich all die live erzeugten Klänge und rhythmisch überlagernden Töne zu einem harmonischen und geradezu hypnotischen Ganzen. Man wird magisch hineingezogen in diesen minimalistischen Soundtrack, der oft so klingt, als müsste gleich etwas losgehen, aber dieses Etwas ist dann nur etwas ganz Kleines, keine große Melodie oder eine neue Harmonie, sondern zumeist nur ein kleiner Wechsel von Sounds oder kleinsten Klangfetzen eines Pianos oder eines Zufallstöne produzierenden Basssynthies. Manchmal setzt die Drum-Machine aus, dann kommt der Beat wieder rein. Die Zeit vergeht dabei im Flug. Mullaert improvisiert einen Akkord auf einem Synthesizer. Wayne singt ein paar Worte, wiederholt seine Zeile bis sie wie von Geisterhand sich selbst wiederholt und er dazu etwas Neues erfindet, oder er sich einfach selbst zuhört, um dann wieder von der Bühne abzutreten und den Maschinen und ihren Operateuren allein das Feld zu überlassen.

Als es langsam dunkel wird und immer voller, denn anders als die Veranstalter gedacht haben, kann sich kaum jemand dem Sog der Musik entziehen und gehen, beginnen allmählich immer mehr zu tanzen und die kleinen Veränderungen in Sound und Rhythmus zu bejubeln. Nach sieben Stunden, die Sonne ist längst untergegangen, endet der Kreis des Lebens, die elektronische Live-Improvisation der Vier mit klassisch anmutenden Gesangsphrasen von Wayne Snow. Zurück bleibt ein inspirierendes und euphorisches Schwingen und Pulsieren, das auch viele weitere Tage anhält. The Circle of Live ist eine großartige elektronisch-musikalische Grenzerfahrung, in der vier Menschen seelenlosen Maschinen lebensfrohe Musik entlockt haben, glücklich wer dabei sein konnte.

Oliver Hafke Ahmad

https://www.draussenstadt.berlin/de/kultursommerfestival/


West-Eastern Divan Orchestra, Daniel Barenboim und Igor Levit in der Waldbühne

Musik für die Morgen danach

Berlin, August 2023. Dieses Orchester ist ein Phänomen, ein wahr gewordener Traum von einem friedlichen Zusammenleben und -arbeiten von Menschen, die aus Religionen und Kulturen stammen, die oft genug gegeneinander aufgehetzt werden und sich auch oft genug allzu leicht gegeneinander aufhetzen lassen. Hier sitzen sie friedlich beieinander, die Araber und Juden aus Israel, Palästina, dem Libanon, Syrien, aber auch der Türkei, dem Iran und Spanien und machen Musik, hören aufeinander, harmonieren miteinander und produzieren hochprofessionell und dennoch leidenschaftlich Musik. In ihr schwingt stets die Hoffnung mit, dass dieses friedliche Miteinander im Orchester auch auf das Leben jenseits der Bühne einwirkt, dass Frieden, Toleranz, Akzeptanz und Respekt vor dem Anderen nicht nur in der Kunst, in der Musik gelebt werden, sondern auch im normalen Alltag und vor allem auch in der Politik funktionieren.

Dieses idealistische Glühen haben all die jungen Musiker und Musikerinnen auf den Wangen, als sie vor das Publikum in der Berliner Waldbühne treten, um den Abschluss ihrer alljährlichen Sommertournee zu zelebrieren. Und das an einem Ort, der einst für selbsternannte Herrenmenschen erbaut wurde, die alle anderen unterwerfen oder auslöschen wollten. Auch an der bis heute anhaltenden Zwietracht und dem Antisemitismus im Nahen Osten hat Deutschland einen historischen Anteil, wie wir in einer aktuellen Publikation zum Thema lernen können.

So viel humanistische Bedeutung, so viel nervige Nahost-Politik und apokalyptisch gescheiterte Welteroberungsprojekte, das Publikum wischt all die vielschichtigen Bedeutungen weg mit seinen heiteren Farben, sommerlichen Kleidern und Strohhüten an diesem heiteren und leichten Sommerabend, wie einen Klecks von Vanilleeis auf Bermudashorts. Auf zwei Videoleinwänden wird die Entstehung des Orchesters erklärt, der beiden Gründer gedacht, dem palästinensischen Intellektuellen Edward W. Said, der bereits 2003 verstorben ist, und dem argentinisch-israelischen Dirigenten des Orchesters Daniel Barenboim. Aber das Publikum ist mehr mit sich selbst beschäftigt, mit Sehen und Gesehen werden, Getränke kaufen, Plätze suchen, Selfies machen.

Dieses Orchester mit Mitgliedern aus dem gesamten Nahen Osten wird gleich an diesem bedeutungsschwangeren deutschen Ort, deutscheste Musik spielen, nämlich Beethoven und Brahms. Gibt es keine arabischen und israelischen Komponisten, die für Orchester schreiben? Wäre dies nicht genau das i-Tüpfelchen auf der Arbeit des West-Eastern Divan Orchestra, nicht nur miteinander zu musizieren, sondern auch die jeweilige Musik der Anderen zu spielen und damit sich mit deren Kultur intensiv zu beschäftigen und sie zu würdigen? Oder scheitert es an der schnöden Veranstaltungsökonomie? Wäre mit so einem Programm von hierzulande wohl eher unbekannten Komponisten die Waldbühne nicht so schön voll zu bekommen, wie sie es an diesem Samstagabend ist? Es würde sich sicher lohnen, dies mal auszuprobieren!

Eigentlich sollte Martha Argerich, die lebenslange musikalische Freundin von Dirigent Daniel Barenboim, den Klavierpart übernehmen, doch die Grande Dame des Klavierspiels musste krankheitsbedingt leider absagen. Mit Igor Levit kommt stattdessen einer der jüngeren Publikumslieblinge der Klassikszene auf die Bühne, die der sich erstmals mit Barenboim teilt. Der in Berlin lebende russisch-stämmige jüdische Pianist kümmert sich nicht nur um sein Klavierspiel, sondern mischt sich altersgerecht per Social Media auch immer wieder in die Politik und aktuelle gesellschaftliche Debatten ein. Mit leichter Hand und bei Bedarf mit kräftigem Zupacken spielt Levit gemeinsam mit dem Orchester Beethovens Klavierkonzert Nr. 1 in C-Dur.

Der inzwischen 80jährige Pianist und Dirigent Daniel Barenboim leitet das offensichtlich gut geprobte Orchester im Sitzen, teilweise mit nur einem Arm und nur wenigen Bewegungen eher in Bauch als in Brusthöhe. Doch die Autorität seiner über sieben Jahrzehnte währenden Musikerkarriere reicht, um auch mit geringsten Mitteln Effekt bei seinem Gegenüber zu erzielen. Er zeigt den überwiegen jungen Musiker*Innen nur das Nötigste und zwingt sie damit zu selbstverantwortlichem aber dennoch gemeinschaftlichem Spiel.

Und so wird Levit am Flügel an diesem Abend zum Ko-Dirigenten, denn auch er zeigt dem Orchester immer wieder mit spitzbübischem Lächeln wo er sich dessen Einsatz nach seinen Klavierparts wünscht. Levit zelebriert die fein ziselierten Linien im 1. Satz ebenso, wie die Zartheit und Innerlichkeit von Beethovens 2. Satz. Sehr schön gelingt das Interplay zwischen dem Piano und den Holzbläsern, den Oboen, Klarinetten und Flöten im 3. Satz, perfekt in Intonation, Ausdruck und Dynamik. Klug installierte und weitgehend unsichtbare Videokameras und die bestens geschulte Videoregie zeigen auch den hintersten Rängen das musikalische Geschehen im Detail auf zwei großen Leinwänden links und rechts der Bühne. Wo kann man sonst ein Orchester gleichzeitig live und im Detail auf dem Bildschirm verfolgen? Ein Genuss für jeden Musikinteressierten. Der Solist Levit, Dirigent Barenboim und das Orchester erhalten schon zur Pause lang anhaltenden Applaus.

Ohne Klavier und mit vergrößertem Orchester geht es nun weiter mit Brahms 2. Sinfonie in D-Dur. Auch hier zeigt sich Barenboim als altersweiser musikalischer Leiter, der mit den ihm offensichtlich immer weniger noch zur Verfügung stehenden körperlichen Mitteln das Maximum an Musikalität aus einem Orchester herauszuholen versteht. Barenboim gibt kaum noch Tempi an, zeigt nur noch die großen musikalischen Bögen an und gibt nur vereinzelt die Einsätze. Das Orchester spielt dabei mit einer Hingabe und Präzision, als würde Barenboim jede einzelne Note dirigieren. Wer will schon diesem Mann und diesem großen Publikum missfallen?

Es ist nicht einfach nur ein Konzertabend wie viele andere, es ist ein Paradebeispiel kultureller Aneignung oder vielmehr kultureller Verschränkung, das wir hier erleben und zwar im besten Sinne. Hier bestiehlt Niemand einen Anderen und dessen Kultur um davon materiell und künstlerisch zu profitieren, hier wird von einem russisch-jüdischen Pianisten, einem argentinisch-jüdischem Dirigenten und einem arabisch-jüdischen Orchester, allesamt zuhause in Berlin, Musik von zwei deutschen Komponisten der Klassik und Romantik gespielt - auf Instrumenten, die ursprünglich aus dem persischen und arabischen Raum zu uns nach Europa gestoßen sind und in einem Tonsystem, das u.a. in Griechenland seine Wurzeln hat. Wer will die Ergebnisse dieser unentwirrbaren kulturellen Verwebungen noch einer einzelnen Nation, einem einzelnen Kulturraum zurechnen?

Über all diese schweren Gedanken wurde einfach hinweg musiziert an diesem heiteren und hochmusikalischen Sommerabend in der Berliner Waldbühne. Das Orchester glühte vor Spielfreude und Idealismus, Igor Levit spielte auf meisterlicher Höhe seines Könnens, fest im Blick, dass seine Karriere ihn noch weit bringen wird, Daniel Barenboim war zu erleben als alterweiser Dirigent, zurückblickend auf eine atemberaubende Geschichte. Ein denkwürdiger, ein hoch musikalischer, ein heiterer und ein eindeutig auch politischer Abend, der die Erfüllung seiner Ideale am Morgen danach, im Alltag nicht nur anregt sondern geradezu verlangt!

Oliver Hafke Ahmad

https://west-eastern-divan.org/


Maerz Musik 2023

Echte Kopien hinter Rollos

Mit einem brennend aktuellen und gleichzeitig unterhaltsamen, bunten und humorvollen Programm startete die diesjährige Ausgabe der Maerz Musik, des Festivals für zeitgenössische Musik der Berliner Festspiele unter der neuen Künstlerischen Leitung von Kamila Metwaly und Gastkurator Enno Poppe. Der etwas sperrige Untertitel Festival für Zeitfragen ist nun weggefallen, stattdessen darf auch mal gelacht werden.

In der Bühnenperformance „Hide To Show“ des Komponisten Michael Beil geht es um das geradezu virtuos inszenierte Thema Digitale Medien und Social Media: Was ist echt? Was ist Kopie? Was ist live? Was ist Playback? Was passiert jetzt? Was ist nur vorgetäuscht? Was ist authentisch? Was ist technisch manipuliert?

Wir schauen auf die große Bühne des Festspielhauses, darauf stehen sechs schwarz ausgekleidete Kabinen, die zum Publikum hin offen sind, und die von ihren Insassen einzeln durch Rollos geöffnet und geschlossen werden können. Die Rollos verschließen nicht nur, sie sind auch Projektionsflächen, mal halb, mal ganz durchlässig. Sie werden durch die darin sitzenden Musiker*Innen auf- und wieder zugezogen. Einblick wird gewährt, dann wieder verweigert.

Aus dieser Idee hat der Komponist Michael Beil mit dem belgischen Nadar Ensemble und mittels aufwendiger Video- und Projektionstechnik eine komplexe Choreographie komponiert, in der Vollplayback, Halbplayback und Live-Gespieltes teils fließend teils abrupt ineinander übergehen. Wir sehen die Musiker in ihren Umkleidekabinen vor einem imaginären Auftritt, sie spielen ein paar Töne, machen ein paar Tanzschritte, ziehen sich um, singen vor sich hin. Die Lamellen werden von Hand geöffnet und wieder verschlossen. Auf den Lamellen sehen wir dann was scheinbar hinter dem Rollo vor sich geht, oder eben genau das nicht, denn plötzlich ist jemand anderes in der Kabine, oder plötzlich sitzen alle in derselben. Ein Musiker läuft vor den Kabinen entlang, sein digitaler Zwilling folgt ihm als Projektion.

Es darf gelacht werden in dieser äußerst amüsanten und sehenswerten Performance. Sie spielt virtuos mit den Möglichkeiten der Video- und Projektionstechnik, des Sounddesigns und der digitalen Vervielfältigung, Verzögerung, Dokumentation/Überwachung. Ein blauhaariges Anime-Mädchen wird plötzlich real auf der Bühne, ein TikTok-Internetphänomen, wie der Lauchtanz zu einer realen Choreographie auf der Festivalbühne. Wir sind heutzutage alle echt und digital zugleich, werden von Kameras erfasst, von Monitoren wiedergegeben, werden geschönt, nachgeahmt oder parodiert. Wir existieren und inszenieren uns in Echtzeit und zeitverzögert zugleich. KI versucht unser Handeln und unsere Gedanken vorherzusehen und vorwegzunehmen. Und auch wer sich versteckt oder verweigert, seine Social Media Accounts publikumswirksam deaktiviert oder verschenkt, kann damit viel von sich zeigen „Hide To Show“ eben.

Ganz und gar auf den Augenblick und eine einzige Musikerin konzentriert ist dagegen die Komposition „Sex Magic“ der australisch-chinesischen Komponistin Lisa Lim. Sie wurde am Eröffnungswochenende in der Betonhalle des Silent Green in Berlin-Wedding aufgeführt. Zur unterirdischen Halle geht es eine lange Rampe hinab. Blaues Licht trifft auf grauen Beton, Silberfolien liegen auf dem Boden. Eine in Folie gehüllte Gestalt mit einer Feder im Mund bewegt sich in der Mitte der befahrbaren Rampe. „Gimme your future, gimme your time, gimme your thoughts, gimme your sorrow“ ruft sie und dazu erklingen Geräusche von vorbeifliegenden Flugzeugen. Es ist die Performance „Echoing Contemporary“ von Liping Ting deren „poésie d'action“ die Zuschauer auf das kommende einstimmt.

In der Halle ist die Bühne einem buddhistischen Schrein ähnlich aufgebaut. Eine große Rahmentrommel mit zwei aufgeklebten Tonabnehmern hängt im Hintergrund. Blumengirlanden schmücken das Gestell. Eine mannshohe Kontrabassflöte wartet auf Ihre Spielerin und steckt in einer Tom-Tom ohne Schlagfell, dahinter eine Bass-Drum mit Pedal. Frische Blumen, Muscheln und Lichterketten im Vordergrund. Es ist die visuelle Verpackung für eine einstündige Komposition, die eher wie eine ausführliche Improvisation wirkt. Die amerikanische Flötistin Claire Chase hat bereits vor 10 Jahren mit Density 2036 ein auf 24 Jahre angelegtes Projekt initiiert, in dem sie alljährlich ein Auftragswerk für die Flöte vergibt und dann selbst uraufführt.

Die Komponistin Liza Lim hat mit „Sex Magic“ für Claire Chase ein wie eine Zen-Meditation daherkommendes Werk geschaffen, in dem Chase vor allem auf der Kontrabassflöte und auch ein klein wenig auf der vergleichsweise winzigen Okarina zu hören ist. Kraftvoll aber dennoch mit Leichtigkeit meistert sie dieses Ungetüm von einem Instrument, dass man meint ein kleine handliche Shakuhachi zu hören, wären da nicht diese wuchtigen Bässe. Sie verschmelzen mit zischenden Atemgeräuschen und langen Melodietönen oder verwandeln sich in Feedbacks, die klingen wie aus einer Gitarre von Jimi Hendrix.

Das armdicke Rohr der Flöte steht in einer TomTom-Trommel auf dem Resonanzfell, je stärker Claire Chase die Flöte in das Fell drückt, desto mehr erzeugt sie die Rückkoppelungen, die von Senem Pirler am Mischpult dosiert werden. Damit das meditative und ritualhafte der Komposition nicht in Entspannungsmusik abgleitet, durchbricht immer wieder das Rasseln eines Stemmbohrers die Stille. An einigen Stellen stampft Chase auf das Pedal der Bass-Drum und akzentuiert damit das Anblasgeräusch der Flöte. Eine furiose Solokomposition für eine außergewöhnliche Performerin,.

Mit „Sonic Meditations“ der kalifornischen Pionierin der elektronischen Drone-Musik und Achtsamkeitsphilosophie Pauline Oliveros aus dem Jahr 1971 endet der Samstag in der Betonhalle. Es ist ein zweistündiges ununterbrochenes Rauschen und tieffrequentes Dröhnen, das, unter Verweigerung jeglicher wahrnehmbarer Veränderungen, die Zuhörer*Innen auf sich selbst zurück wirft. Zunächst gespannt dem Kommenden harrend, viele mit neonfarbenen Stöpseln im Ohr, irritiert oder langweilt das etliche Zuschauer*Innen so sehr, dass nach kurzer Zeit bereits die Ersten die Halle verlassen.

Erst nach einer Stunde des ununterbrochenen Rauschens und Dröhnens erheben sich acht Personen aus dem Publikum und beginnen vor den vier Lautsprecher-Subwoofer-Paaren jeweils zu zweit Tai-Chi-Bewegungen zu machen und durch die Reflexionen ihrer Körper das Rauschen minimal zu modulieren, während gelegentlich und unvorhersehrbar die Scheinwerfer flackern. Man kann an sich selbst beobachten, wie der Geist nach kleinsten akustischen Veränderungen giert, sie vielleicht sogar halluziniert, wie die eigene Körperhaltung oder die Öffnung des Mundraums den Schall und seine Wahrnehmung verändert. „Sonic Meditations“ ist ein radikales und keineswegs angenehm zu hörendes Kunstwerk, fernab der harmoniesüchtigen Entspannungsmusik, wie es sie heute massenhaft auf Musikplattformen zu hören gibt.

www.berlinerfestspiele.de

The New Yorker über Pauline Oliveros

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